Ein Rundflug und der Weg nach Norden

Nach sechs sehr lehrreichen, aber nicht weniger anstrengenden Wochen auf dieser riesigen Ranch, verabschieden wir uns von Lars und den anderen. Wir werden mit Lea und Lina, einer ehemaligen Workawayerin, die für eine Woche auf Besuch da war, nach Williams Lake gefahren, wo Lars eine Überraschung für uns hat. Willams Lake ist der nächste größere Ort und liegt etwa 250Km. vom Hof entfernt. Lars älterer Sohn ist Pilot und wir dürfen mit ihm einen Rundflug machen. Zuerst wollte er uns vom Flugplatz in der Nähe vom Hof bis nach Prince George, 250 Kilometer weiter nördlich, fliegen, doch aufgrund des Wetters fiel dies flach. Im Ort werden wir auch bereits erwartet und Lea und Lina dürfen zuerst ran. Rebecca und ich warten noch im Haus und kommen eine Stunde später zum Flugplatz. Zuerst hören wir ein leises Summen aus der Ferne, dann ein immer lauter werdendes Brummen, bis wir die kleine Propellermaschine sehen, die immer näher kommt und dann vor uns landet. Der „Flughafen“ von Williams Lake besteht aus einer Lande- und Startbahn im Wald und einem kleinen Terminal. Immerhin wird Williams Lake mehrmals am Tag von Vancouver aus angeflogen. Die anderen beiden steigen strahlend aus und wir laufen zu dem auf uns wartenden Flugzeug. Uns wird alles erklärt und es gibt sogar eine Sicherheitseinweisung, in der uns eigentlich zu verstehen gegeben wird, dass sowieso nichts passiert. Rebecca nimmt hinten Platz, während ich vorne rechts sitzen darf. Insgesamt gibt es Platz für vier Leute. Dann anschnallen, Kopfhörer auf und schon geht es los. Wir hören den Funk mit und können Seabs, also dem Piloten, der genauso alt ist wie wir, Fragen stellen. Es ist sein eigenes kleines Flugzeug, das aus den 70ern stammt, aber zum Glück einen sehr guten Eindruck macht. Kaum werden wir schneller, heben wir auch schon ab. Die Landschaft unter uns bewegt sich immer weiter von uns weg, bis wir die Waldlandschaft unter uns sehen können. Es geht über Williams Lake, den großen Fraser River und über die teils hügelige, teils bergige Landschaft. Es ist wunderschön, diese weite, grüne Land, durch das sich die Täler wie Adern ziehen, unter sich zu sehen. Dann auf einmal machen wir eine scharfe Kurve, so dass das Flugzeug fast ganz auf der Seite steht. Kurz darauf werden wir von Seabs etwas gefragt, was ich aufgrund von Störgeräuschen des Kopfhörers nicht richtig verstehe. Ich nicke einfach und schon fliegen wir steil nach oben und wenige Sekunden später befinden wir uns im freien Fall…ungefähr 10 Sekunden lang! Aber selbst schuld, wenn man einfach etwas zustimmt, was man nicht verstanden hat. Und wieder wenige Minuten später fliegen wir immer tiefer und tiefer und noch tiefer über eine große Weide hinweg. Gerade so hoch wie die Spitzen der Bäume, die aus dem angrenzenden Wald ragen. Es scheint, als ob wir in einem Affenzahn über den Boden schleifen würden. Einfach klasse! Kurz bevor wir am Waldrand ankommen, gewinnen wir wieder Abstand zum Boden. Wieder in guter Höhe angekommen, fragt mich Seabs, ob ich nicht auch mal ans Steuer möchte. Natürlich möchte ich, aber trotzdem frage ich ihn nochmal, ob er das wirklich möchte. Denn ob ich ihn diesmal richtig verstanden habe, bin ich mir nicht sicher. Doch er meinte es genau so wie ich es verstanden habe und er erklärt mir das Steuer vor mir auf dem Copilotensitz. Und dann fliege ich, während ich Rebeccas skeptisch-zweiflerischen Blick im Rücken verspüre. Ich fliege nach links, dann nach rechts und nach oben und unten. Es macht riesigen Spaß! Nach ein paar Minuten lasse ich dann Seabs wieder ans Steuer und wir fliegen langsam zurück zum Flughafen, wo wir nach einer halben bis Dreiviertelstunde des Fluges landen und parken. Was für eine schöne Überraschung!!! Den restlichen Tag über kaufen wir noch ein und verbringen noch eine Nacht im Haus von Lars in der Stadt. Am folgenden Morgen werden wir von Lea noch etwa 30 Kilometer weiter zu einem See im Wald gefahren, wo wir zwei Nächte bleiben werden. Der Abschied fällt schwer und einerseits freuen wir uns auf die kommenden zwei Wochen unterwegs, doch auf der anderen Seite sind wir auch froh, dass unser nächster Hofaufenthakt bei Whitehorse im Yukon Territory nicht allzu fern ist.

Nun sind wir wieder unter uns. Das Zelt steht am Hang oberhalb von dem tiefblauen und glasklaren See. Ich stehe am Ufer und angle, während Rebecca oben liest. Ich habe gerade ein paar mal ausgeworfen, da zappelt auch schon die erste Forelle. Am Nachmittag fang ich dann noch eine, so dass es ein gutes Fischabendessen gibt. Am Tag darauf kann ich sogar eine 46 Zentimeter lange Forelle an Land ziehen! Ansonsten machen wir nicht viel. Wir spielen, lesen, angeln und essen. Die Ruhe der zweiten Nacht wird von einer Party nebenan gestört. Am Morgen setzt sich dann eine betrunkene Frau neben uns und zollt uns für unser Verhalten großen Respekt und redet von einem Ort im See, an dem alle Toten hinkommen. Wahrscheinlich hat sie nicht nur Alkohol genommen.

Mit einer Gruppe aus Alaska und einem indigenen Paar kommen wir bis Prince George. Nun stehen wir vor der Entscheidung, ob wir den Alaska-Highway in Richtung Norden oder den Steward-Cassiar nehmen, der zunächst nach Westen führt. Aufgrund der Tatsache, dass die Route in Richtung Westen weniger befahren sein soll und gleichzeitig schöner ist, entscheiden wir uns für diesen Weg, auch wenn wir die ersten 500 Kilometer auf dem Highway 16, bekannt als „Highway of Tears“, unterwegs sein werden.

Der „Highway of Tears“ erlangte traurige Bekanntheit durch die vielen verschwundenen und teilweise tot aufgefundenen Menschen, die auf dieser Strecke unterwegs waren. Seit den 70ern sind über 40 Menschen verschwunden. So gut wie alle indigen, weiblich und unterwegs per Anhalter. Zwar sind die Zahlen zurückgegangen, doch auch letztes Jahr sind drei Frauen verschwunden. Wir stellen uns am Ortsausgang von Prince George an die Straße und bereits nach wenigen Minuten hält eine junge Frau an. Indigen. Alleine. Wir werden von ihr breit angegrinst und ins Auto gebeten. Auf der Fahrt kommen wir an vielen Vermisstenschildern vorbei, auf denen die Bilder der Verschwundenen und allerhand Telefonnummern aufgedruckt sind…

Nach insgesamt vier Tagen auf dieser Strecke, von denen wir zwei an einem Fluss verbracht haben, sind wir an der Kreuzung, von der die Straße abzweigt, die uns gen Norden führen wird. Geradeaus geht es nach Prince Rupert, von wo aus man eine achtstündige Fähre zur berühmten Insel Haida Gwaii nehmen kann. Wir fahren jedoch Richtung Norden und mit unserem ersten Anhalter kommen wir bis zu einem netten See. Wir werden hier nicht nur von Moskitos aufgefressen, sondern auch von kleinen schwarzen Mücken, die schmerzende blutige Stellen hinterlassen. Wir kochen und hängen unser Essen an einen Ast, hoch genug, dass kein Bär von unten- weit genug vom Stamm weg, dass kein Bär von der Seite- und weit genug vom Ast nach unten, dass auch kein Bär von oben an unsre Tüten herankommt. Es dauert jedes mal eine gute halbe Stunde, bis wir einen guten Baum/Ast gefunden und unsere Taschen nach oben gezogen haben… Im Vergleich zu den vielen Recreation Sites (meist kostenlose Campingplätze), die es überall in British Colombia gibt, müssen wir hier unsere Sachen in den Baum hängen. Auf den Recreation Sites haben wir unsere Nahrungsmittel über Nacht entweder ins Plumpsklo oder in die bärensicheren Mülleimer gesteckt. Bärenboxen für Lebensmittel gibt es auch dort nur selten, da so wie fast alles in Kanada aufs Auto ausgelegt ist und man somit seine mobile bärensicheren Box ja sowieso dabei hat.

Wir stehen an der Straße und es riecht nach Bär. Ja, Bären haben einen recht strengen Geruch, der etwas an das Großkatzenhaus in einem Zoo erinnert. Wir sehen keinen und sind dann doch froh, dass auf der einigermaßen wenig benutzten Straße bald ein Auto hält. Darin ein indigener Mann, der gerade von seiner dreitägigen und oneway achtstündigen Einkaufsfahrt heimfährt. Er erzählt uns etwas von der indigenen Kultur, wie die Sprache und Bräuche verloren gehen, dass die verschiedenen Stämme in Clans und Häuser aufgeteilt sind und dass die Totempfähle praktisch als Geschichtsbücher dienen. Es ist sehr spannend und er beantwortet uns jede unserer (vielen) Fragen ausführlich. Wir sehen während der Fahrt mehrere Schwarzbären neben der Straße und einmal sogar eine Mutter mit zwei Jungen. Nach drei Stunden steigen wir am Eddontenajon Lake aus, wo wir die nächsten zwei Nächte bleiben werden. Der schmale, glasklare See, der in Wald und Berge eingebettet liegt, ist wunderschön. Wir haben sonniges Wetter und über 25ºC Grad. Zum Abendessen gibt es frisch gegrillte Forellen. Als wir unser Essen in die Rückseite einer Mülltonne für die Nacht stellen, treffen wir auf eine ältere Kanadierin mitte 60 und einen Deutschen in unserem Alter. Die Frau ist mit ihrem Ruderboot auf dem Weg zum Yukon, dessen zweite Hälfte sie bis zur Mündung in die Beringsee, etwa in 2-3 Monaten befahren möchte. Die erste Hälfte hat sie bereits vor ein paar Jahren geschafft. Mit Flo verbringen wir den nächsten Tag. Wir unterhalten uns, spielen, ich zeige ihm das Angeln und wir essen gemeinsam. Wir sind mit ihm noch für zwei weitere Tage zusammen, bis sich unsere Wege am ebenfalls sehr schönen Dease Lake trennen. Auf der Recreation Site am Dease Lake treffen wir dann gleich auf die nächste Reisebekanntschaft. Sein Name ist Elias, er ist 30 Jahre alt, Schweizer und möchte für zwei Jahre lang durch Nord-, Mittel- und Südamerika reisen. Also wie wir nur umgekehrt. Er hat ein eigenes Auto mit einem Dachzelt und ist insgesamt sehr gut ausgestattet. Wir werden von ihm gefragt, ob wir ein Stück mit ihm mitfahren möchten und wir bejahen. Aus einem Stück wird dann schlussendlich eine ganze Woche. Es passt einfach zwischen uns. Zudem ist Elias froh, Gesellschaft zu haben und wir sind froh, ohne warten zu müssen, weiterzukommen. Wir kommen am wunderschönen Boya Lake vorbei, der mit seinem türkisblauen Wasser und seinen vielen grünen Inseln mehr an ein Karibikparadies erinnert als an einen See umgeben von borealen Nadelwald. Mit Elias` Drohne können wir das Ausmaß dieser Perle von oben betrachten. Und der See ist einfach unglaublich. Wie viele grüne Spiegeleier liegen die Inseln verteilt in dem von schneebedeckten Bergen umgebenen See. Das Wasser an den Rändern türkisblau, zur Mitte hin immer dunkler werdend. Mit dem kleinen aufblasbaren Kajak, das uns Elias netterweise ausleiht, können wir den See ein wenig erkunden. Abends springen die Fische und ich Angel immer und immer wieder inmitten dieses Schwarmes, aber sie scheinen vollkommen auf die Mücken an der Wasseroberfläche fixiert zu sein, als dass sie sich für meine Köder interessieren würden. Das Schöne, wenn wir mit Elias unterwegs sind ist, dass er so wie wir auch, sehr an der Tierwelt interessiert ist und bei jedem Bär, Elch und Biber anhält und seine Kamera auspackt. Teilweise rennen die Bären zwar weg, wenn man versucht, neben ihnen an der Straße anzuhalten, doch einige grasen auch einfach weiter und lassen sich von nichts stören. Es sind fast nur Schwarzbären die wir sehen und der eine Grizzly ist auch so gut wie schwarz. Einmal halten wir neben einem Schwarzbären an, der sich zwar nicht direkt gestört zu fühlen scheint, aber immer weiter läuft. Wir folgen ihm bestimmt eine Stunde lang und beobachten ihn aus nächster Nähe. Schon komisch irgendwie, diese pelzigen Kugeln, die da neben der Straße stehen und fressen. Ein andermal steht ein Elch neben dem Highway, den wir einige Zeit beobachten und fotografieren können. Jedes mal wenn ein Auto vorbeifährt, rennt er in den Wald und kurze Zeit später kommt er wieder hervor. An uns, die im stehenden Auto sitzen, hat er jedoch keinerlei Interesse.

In einem kleinen Ort auf dem Alaska Highway besuchen wir den berühmten Schilderwald. Und wortwörtlich, es ist ein Wald aus Schildern. Schilder aus aller Welt. Ortsschilder, Wegweiser, Kilometerangaben, usw. Es haben sogar Ortschilder aus Esslingen und Stuttgart und Autokennzeichen aus Tübingen hierher geschafft. Mit zwischenzeitlichen Übernachtungen an einem Fluss und einem See, in dem ich zwei Hechte an die Angel bekomme, kommen wir nach Whitehorse, das mit rund 25 000 Einwohnern die Hauptstadt des Yukon Territorys bildet und Ausgangspunkt von Abenteuertourismus darstellt. Wir haben nur noch zwei Tage Zeit, bis wir auf dem Hof sein müssen, der rund 40 Kilometer außerhalb liegt. Dennoch entscheiden wir uns dafür, mit Elias noch weiter in Richtung Alaska zu fahren und zusammen im Kluane Nationalpark wandern zu gehen.

Das Wetter ist eher wechselhaft, als wir am Visior Center parken und loslaufen. Es geht einen Weg im Wald bergauf und nach wenigen Kilometern erreichen wir eine felserne Plattform, von der aus wir die umliegenden Berge, das breite Tal unter uns mit einem Bergbach und einen kleinen Teil des großen Kluane Lake sehen können. Es sieht wild aus. Wunderschön. Und was fehlt vor einer Kulisse? Ja richtig, das Schauspiel! Und dieses stellen die zwei schneeweißen Dallschafmütter mit ihren kleinen und genauso weißen Lämmern dar. Sie stehen, bzw. liegen einen Felsvorsprung weiter unten und beäugen uns interessiert. Eine Szene wie aus einem der mich immer wieder begeisternden Tierdokus, die ich als Kind geschaut habe. Wir steigen immer weiter nach oben, bis wir irgendwann den höchsten Punkt erreichen, an dem wir dann behagelt werden. Auf dem Rückweg verabreden wir uns noch mit einem älteren Paar für den nächsten Tag, die uns wieder zurück nach Whitehorse nehmen können. Ein perfekter Tag, den wir mit Elias am Ufer des Kluane Lake mit Feuer, gutem Essen und guten Gesprächen bis spät in die Nacht ausklingen lassen. Wobei man von Nacht seit zwei Wochen kaum mehr sprechen kann. Die Sonne geht hier zurzeit um halb zwölf unter und um halb fünf wieder auf. So richtig dunkel wird es nicht mehr.

Am nächsten Morgen ist es an der Zeit von Elias Abschied zu nehmen. Es war eine intensive, ganz andere Reisewoche für uns als wir bisher hatten. Es war eine ganz neue Erfahrung, mit jemandem anders als nur zu zweit unterwegs zu sein und wir haben es genossen. Nicht weil es bequemer war. Das war es natürlich auch. Wir standen eine Woche lang nicht an der Straße, wurden trotzdem mitgenommen, durften unsere Essenssachen über Nacht im Auto lassen, wir haben zusammen auf Elias Kocher (mit zwei Platten!) viel Leckeres gekocht, haben in seinem Backofen Brot gebacken, durften selbst Auto fahren und mitentscheiden wo es hingeht, haben die Zeit gehabt, Wildtiere zu bewundern und durften sogar eine Nacht in Elias‘ Dachzelt Probeschlafen. Aber es ist bei Weitem nicht das, weshalb es so schön war. Es war so schön weil wir in Elias jemanden bei uns hatten, mit dem man über so vieles reden, sich über so vieles austauschen konnte, der vollstes Vertrauen zu uns, und in den auch wir volles Vertrauen hatten, mit dem man Scherze machen und herzlich lachen konnte. Wir haben in dieser einen kurzen Woche einen Freund gefunden, den wir ganz bestimmt wiedersehen werden!

…doch vorerst trennen sich unsere Wege. Elias macht sich auf den Weg nach Alaska, wir kehren nach Whitehorse zurück, wo wir uns mit Gail treffen, die uns mit zu ihrem Hof nimmt, auf dem wir die nächsten sechs Wochen verbringen werden…

Bis bald und liebe Grüße,

Rebecca und Johann

(Johann)